Aus der Mitgliederversammlung des Stadtjugendring Potsdam e.V. (SJR) bildete sich 2018 eine vielfältige Arbeitsgruppe, bestehend aus freien Jugendhilfeträgern, die Mitglieder des SJR sind, Trägern der Sozialarbeit für junge Menschen bis 27 und für Menschen ab 27 Jahren und Personen aus der Stadtverwaltung Potsdam. Gemeinsam arbeiteten wir regelmäßig an dem Haupt- und Oberthema: Marginalisierung und Verdrängung bestimmter Gruppen aus dem öffentlichen Raum – d.h. sowohl von Jugendlichen als auch Erwachsenen. Wir sind eine Gruppe aus Fachkräften, die in diversen Arbeitsfeldern aktiv sind und somit unterschiedliche Erfahrungen mitbringen.
In den letzten Monaten arbeiteten wir intensiv an einem Positionspapier zum Thema Junge Menschen im öffentlichen Raum, um über Hintergründe zu informieren, Zusammenhänge aufzuzeigen und vor allem eine Lobby für junge Menschen zu sein.

Worum geht es?
“Junge Menschen im öffentlichen Raum”: Das ist ein vielschichtiges Thema und begleitet den SJR und seine Mitgliedsverbände seit vielen Jahren. Die Diskussion über Freiräume in Potsdam ist im Wandel. Mittlerweile geht es neben den klassischen Sport- und Freizeitplätzen, auch verstärkt um Verdrängungsprozesse im öffentlichen Raum.
Der öffentliche Raum ist für eine Stadtgesellschaft elementar wichtig. Dabei hat es sich noch nie um ein harmonisches Idyll gehandelt, in dem alle genug Platz und nur sozial verträgliche Interaktionen miteinander haben. Menschen treffen aufeinander, die vielfach unterschiedliche Bedürfnisse und zum Teil gegensätzliche Interessen verfolgen. Der öffentliche Raum ist geprägt von solchen Konkurrenzen und Nutzungskonflikten.
Der öffentliche Raum ist vor allem auch aus pädagogischer Perspektive für jungen Menschen lebensnotwendig. Für sie und ihre Entwicklung ist der öffentliche Raum ein wichtiger Sozialisationsort. Ganz grundlegend sind junge Menschen und ihre Bedarfe Teil der Stadtgesellschaft und sie haben eine Berechtigung, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten. Doch Anspruch und Wirklichkeit gehen hier weit auseinander. Deshalb bedarf es aus unserer Sicht einer generellen Grundsatzdiskussion darüber, wo Orte für junge Menschen sind und wie sie auf städtischer Ebene debattiert werden.
Junge Menschen in Potsdam
Die Stadt Potsdam wächst rasant, vornehmlich durch junge Familien. Es bedarf viel Wohnraum und Gewerbeflächen und es leben immer mehr Menschen auf immer weniger Raum. Vor allem in den neu hinzugekommenen Stadtteilen leben momentan viele Klein- und Grundschulkinder. Doch es ist zu bedenken, dass diese Kinder in den nächsten 5-10 Jahren zu Jugendlichen heranwachsen und sich den öffentlichen Raum aneignen werden.
Öffentlicher Raum als Ort der Begegnung
Nutzer*innen, die sich an öffentlichen Plätzen treffen und nicht in das allgemein gesellschaftlich akzeptierte Bild passen, werden als störend empfunden. Es gibt Nutzungsgruppen, die ihre sozialen Interaktionen hauptsächlich im öffentlichen Raum pflegen, d.h. sich mit ihrem Freundes- und/oder Bekanntenkreis treffen, um dort gemeinsam Zeit zu verbringen und sich über verschiedene Erfahrungen auszutauschen. Meist ist dieser Treffpunkt im öffentlichen/halb-öffentlichen Raum die einzige Konstante im Tagesablauf der Nutzer*innen und bietet ihnen die Möglichkeit mit anderen Menschen außerhalb ihrer Familie, soweit diese noch vorhanden ist, in Kontakt zu treten. Häufig steht diesen Nutzer*innen eher weniger persönlicher Wohnraum zur Verfügung, sodass der Aufenthalt im öffentlichen Raum eine große Bedeutung für die persönliche Entwicklung und das Wohlbefinden hat.
Wichtig für junge Menschen
Der öffentliche Raum und die in ihm stattfindenden Auseinandersetzungen und Aushandlungen sind somit ein wichtiger Baustein der psychosozialen Entwicklung von Jugendlichen. Sie verlassen erstmals ihr familiäres Umfeld und die speziell auf sie als Minderjährige zugeschnittenen Angebote. In der Interaktion mit den Peers und ihrer räumlichen und sozialen Umgebung entwickeln sie einerseits eine eigene Persönlichkeit/Identität und andererseits die Fähigkeit, ihren Platz im sozialen Gefüge bzw. der Gesellschaft zu finden. [2] Öffentliche Soziale Räume bieten auch protektive Effekte, wie soziale Kontrolle durch das Umfeld, und ermöglichen somit das Erlernen sozialen Kompetenzen. Demnach sind die Konflikte im öffentlichen Raum Lernfelder für alle Altersgruppen und als Teilhabe- sowie Aneignungsprozess zu verstehen.
Demokratische Bedeutung
Der öffentliche Raum ist immer auch ein politischer Raum. Politik muss die Gesellschaft als Ganzes im Blick haben. Was lernen junge Menschen, über ihre persönliche Einflussnahme in ihrer Heimatstadt, wenn sie sich immer wieder ohnmächtig Verdrängungsprozessen ausgesetzt sehen?
“Junge Menschen sind unerwünscht”, “Wir haben ja sowieso nix zu melden”, “Alles Spießer hier!” sind nur einige der Glaubenssätze, die sich durch diese Verdrängungsprozesse manifestieren können. Diese sind ein denkbar schlechter Nährboden für die Entwicklung einer positiven individuellen Einstellung zu Demokratie. Die aktuelle Sinus-Studie unterstreicht die Unzufriedenheit der jungen Generation mit den aktuellen Entscheidungsprozessen.
Corona
In den Pandemiemaßnahmen wird noch einmal deutlich, wie wenig die Bedürfnisse junger Menschen mitgedacht werden und dass es an Verständnis für ihre Lebensrealität fehlt. Es sind gerade Jugendliche die extrem unter den Maßnahmen der Pandemie leiden, berichten Beratungsstellen und Sozialarbeitende aus Potsdam. Jugendliche sind ernster und besorgter geworden sowie mit Ängsten und Unsicherheit im Bezug auf ihre Zukunft konfrontiert. Doch die mediale Aufmerksamkeit liegt beim Thema Jugend und Lockdown nicht etwa auf den psychischen Belastungen der jungen Menschen, sondern insbesondere seit Mitte März 2020 auf deren Treffen im öffentlichen Raum.
Konsum im öffentlichen Raum
Urbane öffentliche Räume sind auch immer Orte, die von Konsum geprägt sind und diesen sichtbar machen. Nicht nur, aber auch junge Menschen, erschließen sich diese öffentlichen Räume, um dort mit Gleichaltrigen zusammen zu sein und, fernab von der Aufsicht des elterlichen Zuhauses, eigene (auch Grenz-)Erfahrungen zu machen.
Das Ausprobieren, das Erfahren von Grenzen und das Reiben an bestimmten Normen gehört zu einem ganz normalen jugendlichen Verhalten. Es ist Aufgabe von Jugendlichen, sich an Regeln zu reiben, Grenzen zu überschreiten und eigene Normen und Wertvorstellungen zu entwickeln.
Mädchen im öffentlichen Raum
Bei der Betrachtung von Jugendlichen im öffentlichen Raum bedarf es auch einer geschlechtersensiblen Perspektive. Wenn wir das Verhalten der Jugendlichen anhand geschlechtlicher Sozialisationsprozesse reflektieren, wird sichtbar, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in den Raumaneignungsstrategien gibt und, dass ihr Verhalten gesellschaftlich unterschiedlich bewertet wird. Bei einer solchen Betrachtung sollen jedoch nicht Geschlechterstereotype von „dem Mädchen“ und „dem Jungen“ herangezogen werden, sondern der Fokus darauf gelegt werden, dass alle Jugendlichen den öffentlichen Raum selbstverständlich gleichberechtigt nutzen können sollen. Ein Punkt, um dies zu erreichen, ist explizit die stärkere Beteiligung von Mädchen*.
Wohnungslose im öffentlichen Raum
Auch wohnungslose Menschen halten sich im (halb-)öffentlichen Raum auf, da sie aufgrund von Wohnungsverlust gar keine andere Möglichkeit haben. Die vorhandenen Einrichtungen der Landeshauptstadt Potsdam für wohnungs- und obdachlose Menschen können den Bedarf an der Unterbringung nicht in Gänze decken. Öffentliche Räume dienen hier nicht nur zum Aufenthalt, sondern sind der Ort, an dem soziale Beziehungen hergestellt und intensiv gelebt werden. Viele obdachlose Menschen haben kein strukturierten Tagesablauf. Die Treffen im öffentlichen Raum in homo- wie auch heterogenen Gruppen sind meist die einzigen Konstanten im Leben der Betroffenen. Hier werden verschiedenen Erfahrungen ausgetauscht und gegenseitige Hilfestellungen geleistet.
Auch ein Verdrängungsprozess dieser Gruppe stellt eine enorme Herausforderung für die Straßensozialarbeit dar.
Redaktion
Stadtjugendring Potsdam e.V.
Schulstr. 9
14482 Potsdam
Mitwirkende und Mitglieder der
AG Jugendliche im öffentlichen Raum
Julia Schultheiss (Stadtjugendring Potsdam)
Leonard Jahnke (Stadtjugendring Potsdam)
Sylvia Swierkowski (Kinder- und Jugendbüro Potsdam)
Katharina Tietz (Chill out e.V.)
Olaf Caesar (Wildwuchs Streetwork)
Jessica Platz (Creso gGmbH)
Bianca Strzeja (KuKMA — Kontakt- und Koordinierungsstelle für Mädchen*arbeit in Brandenburg)
Stefanie Buhr (Landeshauptstadt Potsdam)
Ralf Becker (Landeshauptstadt Potsdam)
Katrin Hayn (Landeshauptstadt Potsdam)